»It’s not about setting up a web shop and doing the necessary marketing to sell some bottles of cleaning chems.«
Digitalisierung – wirklich?
Wir neigen dazu, Innovationen aus der Brille des Altbekannten zu betrachten und dadurch ihre Potentiale sowie ihre inhärenten Eigengesetzlichkeiten aus dem Blick zu verlieren.
Ein schönes Beispiel dafür ist der alte Lotus Organizer. Die Manager-Generation war es bis Mitte der 1990er Jahre gewohnt, mit einem Filofax durch die Gegend zu laufen. Das war ein meist in Leder gebundenes Ringbuch mit verschiedenen Einlagen für Kalender, Aufgaben, Kontakte, Visitenkarten u.v.a.m. Grundsätzlich galt im mittleren Management: Je dicker der Filofax, desto wichtiger die Person:
Dann kam mit dem Lotus Organizer die erste, halbwegs integrierte Termin-, Aufgaben- und Kontaktmanagement-Software:
Was hier passiert war, nennen die Amerikaner »digitization« – Digitalislierung: Scanne das Papier ein und mach es irgendwie über Computer zugänglich. Lotus hat meinen Filofax eingescannt. Kann man so machen… Ein digitaler Filofax brachte mir absolut null Mehrwert gegenüber meinem Papier-Exemplar. Im Gegenteil: Bis mein Windows 95 PC wach war, hatte ich schon das Aufgabenmanagement im Filofax auf Papier für den Tag fertig und 3 Anrufe gemacht…
Die heutigen PIM-Programme (Personal Information Manager) wie Outlook, iCal oder Thunderbird sehen meinem alten Filofax noch nicht einmal entfernt ähnlich. Ziemlich schnell haben die Produktmanager und Designer verstanden, dass man mit PC, Handheld und Handy ganz andere Möglichkeiten hat als mit Papier. Um diese Potentiale auszuschöpfen, neue, sinnvolle Funktionen zu integrieren, und das Ganze so zu gestalten, dass ich mich als Nutzer nicht dauernd Frage, was dieser Quatsch denn nun wieder soll – um das alles hinzubekommen, musste man sich vom alten Filofax-Paradigma lösen.
Ohne Paradigmenwechsel geht es nicht
Darum geht es in diesem Artikel im Kern: Digitale Transformation setzt einen Paradigmenwechsel voraus! Ohne den, machen wir nur »Digitalisierung«. Die sollten wir uns vorbehalten für wichtige, historische Dokumente.
In Beratungsprojekten zum Thema Digitalisierung landen wir immer wieder in einer dieser Situation: Wir wollen ein bestehendes Geschäft, einen existierenden Prozess, womöglich ein Produkt »digitalisieren«. Hier fragen wir uns als erstes:
- Was ist damit eigentlich gewonnen?
Und dann:
- Was können wir statt dessen tun, um den Kunden am Ende bessere, zukunftsweisende Leistungen anzubieten?
- Was sind die Innovationen, die für die Zukunft echte Wettbewerbsvorteile bieten?
- Wie muss das Geschäftsmodell aussehen, damit es auch unter den Bedingungen der »neuen«, digital transformierten Welt zukunftssicher ist?
Digitale Transformation statt Digitalisierung – ein Praxisbeispiel
Die Händel GGG GmbH, eine mittelständische Firma im nordbadischen Raum, hat zwei ineinandergreifende Geschäftsfelder: Einerseits betreibt sie einen Gebäudereinigungsservice, andererseits einen Großhandel für alle die Produkte, die Reinigungskräfte und professionelle Gebäudereiniger benötigen. Mit beidem ist sie sehr erfolgreich. Aufgrund ihres Know-hows sowohl beim Thema Reinigung als auch über den Markt und die Bedarfe ihrer Kunden hat Händel GGG bei den Reinigungsmitteln und -geräten mehr und mehr Eigenmarken im Programm. »Eating their own dog food« stellen sie ihre Erfahrungen auch ihren Kunden und ihren Mitbewerbern über den Großhandel zur Verfügung.
Seit einiger Zeit hat Händel GGG auch einen Webshop. Vor allem die Eigenmarken werden hier angeboten. Der Händel GGG -Webshop ist der erste Schritt in den eCommerce und soll die Basis sein für das Wachstum des Handelsgeschäfts, die Ausdehnung des Geschäftsbereichs auf die ganze DACH-Region.
Das Problem: Obwohl der Shop nun schon in Version 2 einige Zeit online ist, lassen die eCommerce-Umsätze auf sich warten. Hm? Was ist zu tun? SEO beauftragen? Influencer kaufen und TikTok-Videos machen? Irgendwie mit Social Media die Reichweite erhöhen! Dann kommen die Leute und kaufen!
Nee – die Erfahrung zeigt: Das tun sie eben nicht. Aber was ist das Problem? Und wie kann eine Lösung aussehen?
Wieder einmal geht es nach unserer Erfahrung darum, ein Geschäft nicht zu »digitalisieren«, sondern wirklich digital zu transformieren. Was heißt das im Einzelnen und wie macht man das?
Die Digitalisierung
Der Händel GGG-Webshop ist ein schönes digitales Abbild des physischen Händel GGG-Großhandels. In den Regalen stehen schön sortiert Produkte, ich kann mir welche raus nehmen und in meinen Warenkorb legen. Wie bei vielen Online Shops steht der als stilisierter, kleiner Einkaufswagen rechts oben auf der Shop Site. Damit ich nicht vergesse, wo ich hier bin: In einem Laden! Nur eben digitalisiert. Und weil es hier niemanden gibt, den ich was fragen kann, gibt’s auch noch ein paar Produktinformationen auf den Detailseiten und ein Datenblatt zum Download. Soweit so bekannt. Der ganz normale Versuch, ein Präsenzgeschäft online zu stellen.
Das Problem: Warum soll ich hier überhaupt einkaufen? Was ist der besondere Nutzen für mich als Einkäufer, als Anwender?
Der Preis? Nein – Händel GGG-Produkte sind nicht billiger als die des Wettbewerbs und wollen es auch gar nicht sein.
Die Marke? Könnte sein, funktioniert aber (noch) nicht, denn Händel GGG ist als Marke nur regional bekannt. Die großen Hersteller dagegen kennt in der Gebäudereinigerwelt jeder.
Sonstiger besonderer Nutzen? Nicht bekannt. Auch wenn das Zeug extrem gut ist (selbst getestet!), wissen das in Nordbaden wenige Anwender und außerhalb Nordbadens so gut wie niemand.
In Summe: Wir haben einen Web Shop mit normalen Funktionen zum gelegentlichen Verkauf von physischen Produkten – wir auch. Und wir haben Produkte mit einem besonderen Qualitätssiegel, dass aber so gut wie niemand kennt; also: wir haben Reinigungsprodukte – wir auch. Zwei Wir-auchs in einem Verdrängungsmarkt.
Während der Dot.Com-Blase hätte hier vielleicht ein Investor einen mittleren zweitstelligen Millionenbetrag für Marketing draufgeworfen. Und damit wäre es vielleicht gelungen, in der DACH-Region 15% Marktanteil zu bekommen. Solange die Kampagnen laufen. Aber den Investor gibt es jetzt nicht. Und wir wollen in fünf Jahren wesentlich mehr als 15% Marktanteil – zumindest bei den relevanten Zielgruppen!
Ergo: Auch wenn es in aller Munde ist: Operatives Suchmaschinen- und Social Media-Marketing ist nicht die Lösung für das Problem. »Digitalisierung« von Verkaufsfläche und teure Online Marketing-Maßnahmen reichen einfach nicht.
Digitale Transformation
Ziele
Jetzt mal genau hingeschaut: Was sind eigentlich unsere Ziele?
- Den Großhandel mit Reinigungsprodukten massiv ausbauen – über die Region hinaus nach ganz DACH
- Den Anteil der Eigenmarken im Handel stark steigern – alle Volumenprodukte sollen aus dem eigenen Haus kommen, nur noch Spezialitäten, für die Händel GGG keine eigenen Rezepturen hat und / oder für die sich aufgrund der Mengen keine eigene Produktion lohnt, sollen als Fremdmarken im Programm bleiben.
- Der Vertrieb soll zu wesentlichen Anteilen über den Web-Shop abgewickelt werden. Das ist kein Selbstzweck. Aber es ist kaum zu erwarten, dass eine Kindergarten-Leitung von Zürich nach Nordbaden fährt, um Sanitärreiniger zu kaufen.
Kunden
Und was sind unsere Kundensegmente? Die Segmente, von denen wir wissen können, das wir sie besser bedienen können, als unsere Wettbewerber?
- Kleine und mittelgroße Gebäudereinigungsunternehmen bis ca. 50 MA;
- Betreiber von sozialen Dienstleistungen wie z. B. Kindergärten, öffentliche Verwaltung, Kirchengemeinden, Facility Manager von Wohn- und Büroeinheiten – all jene, die Putzdienste mit Angestellten, freien Mitarbeitern oder Ehrenamtlichen organisieren und dazu Ausrüstung und Material einkaufen.
Beiden Gruppen gemein ist die Tatsache, dass der Einkauf von Reinigungsausrüstung und -material kein Kernprozess ihrer Wertschöpfung / Dienstleistung ist. Es ist ein notwendiges Übel neben vielem anderen, um das man sich kümmern muss. Etwas, womit man sich eigentlich gar nicht befassen will.
Marktumfeld
Und wie sieht das Marktumfeld aus? Es gibt viele Gebäudereinigungsunternehmen in DACH in allen Größen. Es gibt etliche, sehr gut eingeführte Hersteller und (Groß-) Händler für Reinigungsbedarf. Alle haben mehr oder weniger gute WebShops. Es gibt keinen (uns bekannten) Gebäudereiniger, der einen Großhandel betreibt mit Produkten, die er nach seinen eigenen Rezepturen / Vorgaben herstellen lässt, weil er weiß was gut ist.
Identität und Werte
Wer ist Händel GGG? Wofür steht das Unternehmen?
Händel GGG ist ein Familienunternehmen – eignergeführt in der dritten Generation, die vierte ist schon an Bord. Händel GGG ist nicht hinter der schnellen Mark her, arbeitet nicht an kurzfristiger Profitoptimierung. Händel GGG bildet aus – eigene Mitarbeiter und in Fortbildungen auch die der Mitbewerber oder der Kunden.
Händel GGG hat eine starke Service-Orientierung. Kunden, die etwas bestellen wollen, werden auch am Telefon ausführlich beraten. Das Motto lautet: Unsere Kunden können uns blind vertrauen. Dafür steht die Familie. Altmodisch? Vielleicht. Ehrenhaft in jedem Fall.
Transformation
Im Kern geht es darum, nicht einen zusätzlichen WebShop aufzusetzen, sondern das Händel GGG-Großhandelsgeschäft so zu transformieren, dass es in einem Verdrängungsmarkt skalieren kann. Die »neuen«, digitalen Technologien sind nur ein Mittel dazu, etwas, das diese Skalierung ermöglichen kann.
Das kann dann, aber eben genau nur dann funktionieren, wenn Händel GGG sein Handelsgeschäftsmodell neu ausrichtet. Wenn Händel GGG die neuen Möglichkeiten erkennt und optimal nutzt. Nutzen schafft nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für seine Kunden. Die sollen sich auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren können. Sollen sich nicht mehr der Frage, was sie zum Reinigen brauchen und wo sie es rechtzeitig herbekommen, befassen müssen.
»Wir regeln das für sie!«, verspricht Händel GGG . »Sie können uns vertrauen, denn wir wissen genau, worum es geht. Wir machen das nämlich jeden Tag auch selbst. Und arbeiten jeden Tag daran, das noch besser und noch effizienter zu machen.«
Händel GGG verkauft keine Flaschen mit Reinigungsmitteln, keine Putztücher, keine Staubsauger, kein Klohpapier. Händel GGG sorgt dafür, dass davon immer genug da ist.
Die Hausmeisterin, der Pfarrgemeinderat, die Bereichsleiterin einer Reinigungsfirma müssen nicht mehr regelmäßig Bestände kontrollieren oder Beschaffungsfeuerwehr spielen, weil wieder jemand nicht Bescheid gesagt hat, dass etwas fehlt.
Händel GGG stellt jetzt Paketlösungen für typische Reinigungsfälle zur Verfügung. Mit Nachfüllabo – automatisch oder jeweils auf Nachfrage. Kein Kunde muss mehr anrufen und sich an der Warteschlangenmusik erfreuen. Ich bekomme ein Mail mit einem Vorschlag zur Nachbestellung. Die funktioniert dann auf Knopfdruck – 24 Stunden an 7 Tagen in der Woche. Per Express, wenn es besonders eilig ist.
Über die Internetschnittstelle habe ich immer Zugriff auf mein Kundenkonto, kann mein Bestellprofil anpassen, neue Pakete ordern, wenn ich Aufträge für neue Objekte akquiriere, Spezialitäten bestellen.
Und ich kann Online-Kurse für meine Mitarbeiter buchen – von »Deutsch für Reinigungskräfte« bis zu den Modulen für die Meisterklasse für Gebäudereiniger.
Händel GGG liefert sauber – an 7 Tagen in der Woche rund um die Uhr.
Damit spare ich so viel Zeit und Ärger, da kann ein einzelner Reiniger auch ein bisschen mehr kosten. Hauptsache ich habe das Thema vom Hals und kann mich den wichtigen Aufgaben widmen. Dann rechnet es sich für mich.
Umsetzung
Das ist die Vision von Händel GGG 4.0. (Es ist nicht die erste erfolgreiche Transformation von Händel GGG, daher die »4«.) Sie können es auch eine Arbeitshypothese nennen. Die Umsetzung erfolgt in mehreren Phasen. Dabei steht zu Beginn nicht die Neukundengewinnung im Vordergrund, sondern die Bestandskunden. Erst wenn die signalisieren, dass »der neue Händel GGG« ein echter Gewinn ist, geht es ans Wachstum, an die Skalierung über die Region hinaus. Eine Skalierung von »beachhead market« zu »beachhead market« – klassischer Vertrieb. Wenn wir hier gelernt haben, auf welchen Wegen wir unsere Zielkunden am effektivsten erreichen, starten wir Marketing-Kampagnen.
Händel GGG 4.0 ist ein Start-up und wendet erprobte Start-up-Methoden an für die digitale Transformation. Start-up-Methoden, für die man keinen großen Investor braucht. Wie das funktioniert, verraten wir Ihnen bei Gelegenheit gerne.
Key Learning
Machen wir uns nichts vor: Ein existierendes Produkt, ein existierender Prozess in unserer »alten«, vom unmittelbaren Umgang mit physischen Gegenständen und anwesenden Personen geprägten Welt ist so, wie er ist, weil er in dieser Umgebung gerade noch gut genug funktioniert (hat). Perfekt war das nie. Das wichtigste Argument, etwas existierendes 1:1 zu »digitalisieren« ist, dass es eben da ist. »Warum machen sie das so?«, fragt derjenige, der einen Geschäftsprozess analysiert. »Weil wir das halt so machen.«, ist in der Regel die Antwort.
Gewohnheit ist kein Qualitätsargument. Gewohnheit kann uns Zeit sparen. Wir müssen nichts lernen. Wir müssen nichts ändern. So lange die Welt um uns herum so funktioniert, wie sie funktioniert hat, als wir uns die Gewohnheit zugelegt haben. Aber wenn die Welt sich ändert, jetzt anders funktioniert, wird die Gewohnheit zum Problem.
Die Produkte, mit denen wir gewohnt sind, umzugehen, die Geschäftsprozesse, die Art, wie wir miteinander arbeiten, wie wir bestimmte Instrumente einsetzen – all das sind unsere Gewohnheiten. Die können wir »digitalisieren«. Dann bekommen wir »digitale Gewohnheiten« aus einer vordigitalen Welt. Die sollen in einer Welt funktionieren, die sich geändert hat? Meinen wir das wirklich ernst? Wenn wir viel Glück haben, werden unsere digitalisierten Gewohnheiten vielleicht noch »randfunktional« sein. Noch ein bisschen.
Ich schlage vor, wir vergeuden nicht mehr unsere Zeit mit der »Digitalisierung«. Die ist ein Fall für die Grundbuchkataster und Archive. Wir widmen uns der Transformation – dem Raum der Möglichkeiten, der sich durch die neuen Technologien eröffnet. Es gibt so vieles, was wir besser machen können, um unseren Kunden und auch uns selbst das Leben zu erleichtern. Wir können damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass es auch noch einige Zeit Leben auf diesem Planeten gibt, signifikant erhöhen. Es gibt wirklich viel, was wir ausprobieren können. Und müssen, um zu lernen, wie es am besten funktioniert und am meisten Nutzen bringt.
Lassen Sie uns das einfach zusammen machen! – peter[dot]graeser[at]innowerft[dot]com