Sich neu erfinden: Haug Chemie

Tradition und Open Innovation – eine perfekte Kombination

Photo: Haug Chemie GmbH

Haug Chemie, SinsheimSeptember 2019 hat Andreas Stumpe das 1966 gegründete Unternehmen als Geschäftsführer übernommen. Seitdem arbeitet er systematisch an dessen Modernisierung. Dabei setzt er auf Open Innovation.

Seit der Unternehmensgründung im Jahr 1966 entwickelt die Haug Chemie® GmbH als strategischer Systemlieferant ökonomische und effiziente Chemie-Lösungen für Kunden aus vielfältigen Bereichen der Industrie. Ganz gleich, ob es sich um Erzeugnisse zur Oberflächenbehandlung, um Löse-, Reinigungs- oder Koagulierungsmittel oder um Entschäumer, Entlacker oder Kühlschmierstoffe handelt – jedes Qualitätsprodukt bündelt jahrzehntelanges Know-how und entspricht dem erklärten Willen für mehr Nachhaltigkeit. In 2022 erwirtschaftete Haug mit etwas mehr als 100 Mitarbeitern einen Umsatz von rd. 26 Mio. €.

Photo: Haug Chemie GmbH

Haug Chemie versteht sich als Qualitäts- und nicht als Preisführer. Bei seinen Kunden ist das Unternehmen sehr gut aufgestellt. Die Kundenbeziehungen sind eng: Der Spezialchemiehersteller positioniert sich erfolgreich als Prozessoptimierer für seine Kunden.

Auf dieser Basis will der promovierte Chemiker Stumpe das Unternehmen neu erfinden und seinen Kunden in Zukunft integrierte Komplettlösungen anbieten. Als kleines, mittelständisches Unternehmen sind die F&E-Kapazitäten bei Haug stark fokussiert auf die Weiterentwicklung des Produktportfolios und die Qualitätssicherung in der Produktion. Eine Open Innovation-Strategie macht hier doppelt Sinn: Sie erweitert die Kapazitäten enorm und vor allem erlaubt sie, sehr unterschiedliche Technologien in komplexen, innovativen Produkten und Services zu integrieren.

Open Innovation-Strategie

Haug Chemie Open Innovation-Netzwerk Stand Februar 2022

Scouting

Open Innovation funktioniert am besten in Netzwerken. Deshalb war unser erster Schritt, potentielle Partner für die Haug Chemie zu recherchieren. Eine Zusammenarbeit mit wem würde in die Innovationsvorhaben des Unternehmens einzahlen? Wir recherchierten Start-ups, Inkubatoren und Akzeleratoren, Hochschulen und Universitäten, Fakultäten und Lehrstühle, Forschungsinstitute und Forschungsgruppen sowie Unternehmen und Verbände.

Suchparameter ergaben sich aus den Leitthemen Nachhaltigkeit und integriertes Lösungsmanagement für die Oberflächenbehandlung in der Industrie und aus dem Wunsch nach Regionalität. Wie viele Mittelständische Unternehmen arbeitet auch die Haug Chemie gerne mit Partnern vor Ort: kurze Wege ermöglichen einen guten, persönlichen Kontakt, schnelle Abstimmungen vereinfachen die Entscheidungsfindung.

Regionalität bedeutete in diesem Fall Deutschland bzw. den DACH-Raum, besonders, was Partner aus der Wissenschaft angeht. Die großen Technischen Universitäten sind in der Regel die natürlichen Kooperationspartner für große (Chemie-) Konzerne, die Forschung mit großen Budgets ausstatten können. Kleinere, weniger bekannte Universitäten sowie die Hochschulen für angewandte Wissenschaften sind zugänglicher für die Kooperation mit dem Mittelstand, weswegen wir sie beim Scouting fokussierten. Es stellte sich heraus: Oberflächenchemie für die industrielle Metall-, Kunststoff- und Holzverarbeitung ist kein Modethema, das an vielen Universitäten und Hochschulen beforscht wird. Damit war ein Ergebnis unserer Recherchen, dass aus dem Forschungssegment mit hoher Wahrscheinlichkeit derzeit keine Ergebnisse zu erwarten sind, die den Markt der Haug Chemie disruptieren werden.

Insgesamt kamen wir auf knapp 50 potenzielle Partner (die großen Forschungsgemeinschaften hier jeweils als eine Einheit gezählt), darunter ein sehr spannendes Start-up (s.u.) und ein Unternehmen just vis-à-vis in Sinsheim: Junker-Filter – mögliche Partner für:

Nachhaltiges Lösungsmanagement

Nachhaltigkeit ist ein Eckpfeiler für die Modernisierung der Haug Chemie. Das Unternehmen arbeitet bereits systematisch an zwei wichtigen Hebeln für eine nachhaltige Oberflächenchemie: Anwendungstemperatur und Stoffkreisläufe. Durch geeignete Verfahren und Formulierungen ist es gelungen, bei verschiedenen Produkten die Anwendungstemperatur auf die oder nahe an die Umgebungstemperatur zu senken. Das spart den Haug Chemie-Kunden viel Energie und vermindert den CO2-Eintrag in die Atmosphäre.

Geschlossene Stoffkreisläufe

sollen den Energie-, Wasser- und Rohstoffverbrauch sowie den Müllanfall bei Produktion und beim Einsatz der Oberflächenchemikalien in der Anwendung beim Kunden reduzieren. Wo es sinnvoll ist, arbeitet Haug Chemie mit Leihgebinden, die wieder aufbereitet und nach Reinigung dem Kreislauf wieder zugeführt werden. Auf dem Gebiet der Lösungsmittel wird zudem beim Kunden eingesetzte und mit Fremdstoffen belastete Ware zum Werk in Sinsheim zurückgeführt. Dort wird sie destilliert und von den Verunreinigungen befreit wieder in den Kreislauf eingebracht.

Photo: Haug Chemie GmbH

Allerdings ist die Aufgabenstellung komplex. Nicht nur die Aufwände für Reinigung und Aufbereitung fließen in die Gesamtökobilanz ein. Die Logistik hat einen maßgeblichen Anteil am CO2-Eintrag. Ab welcher Menge pro Tag lohnt es sich, die Wiederaufbereitung direkt beim Kunden durchzuführen? Wie können diese Prozesse entweder automatisiert oder ferngesteuert werden, um die Kunden nicht mit diesen Prozessanteilen zu belasten? Ab welcher Auslastung lohnen sich ggf. regionale Wiederaufbereitungshubs? Sollen sie von Partnern betrieben werden? Wie groß sollen ihre Wirkungsradien sein, um eine maximale Ressourceneffizienz bei guter Wirtschaftlichkeit zu erzielen? Antworten auf diese Fragen müssen auf der Basis realer Daten gefunden bzw. in Form komplexer Simulationen berechnet werden. Womit wir wieder beim Thema Open Innovation und Innovationpartnerschaften wären…

Bioökonomie

Bioökonomie ist ein zentrales Element der Nachhaltigkeitsstrategien der EU, des Bundes und des Landes Baden-Württemberg. Sie ist nicht unumstritten, vor allem nicht bei den Umweltverbänden. Aber es dürfte allgemein konsensfähig sein, dass man fossile Rohstoffe in der Industrie nicht durch nichts ersetzen kann.

Photo: Universität für Bodenkultur Wien – Creative Commons 3.0 Österreich (CC BY-ND 3.0)

Der Ersatz von fossilen durch nachwachsende Rohstoffe ist ein wichtiges Thema für Haug Chemie, und das gleich im doppelten Sinne. Einerseits gilt es die richtigen Formulierungen und Verfahren für die richtigen Rohstoffe zu entwickeln. Das ist am Ende des Tages «Nasschemie», die Haug bestens beherrscht.

Aber der Einsatz nachwachsender Rohstoffe hat auch nicht-intendierte Nebeneffekte. Die gilt es, vor der Einführung neuer, «bioökonomischer» Produkte zu beherrschen.

Ein traditionelles Problem in der Oberflächenchemie sind Bakterien und Pilze. Solange die chemischen Produkte, die eingesetzt wurden, per se giftig waren, konnten Mikroorganismen weder die Chemikalien noch die damit behandelten Oberflächen besiedeln. Aus guten Gründen ist der Einsatz hochgiftiger Lösungsmittel heute auf wenige, spezielle Anwendungsbereiche beschränkt. Das macht umgekehrt aber schon heute verschiedene Prozesschemikalien sehr besiedlungsanfällig. Durch nachwachsende Rohstoffe wird dieses Problem potenziert.

Photo: BrothersOfMetal, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Verschärft wird dieses Problem zusätzlich in den angestrebten, geschlossenen Prozesskreisläufen, in denen die Chemikalien nicht mehr ausgetauscht werden sollen. Die darin entstehenden Biofilme auf den Oberflächen von Rohren kennt jeder, der einmal den Siphon unter einem Waschbecken entfernt hat. Der braungraue Schleim an den Rohrwänden sieht nur tot aus. Darin wimmelt das Leben. Und das verursacht nicht nur unangenehme Gerüche und Ekelgefühle. Biofilme dieser Art sind gesundheitsschädlich. Ihre Entfernung verlangt der Arbeitsschutz. Sie sind prozessschädlich: Sie verstopfen die Leitungen irgendwann so sehr, dass die jeweilige Oberflächenbehandlung nicht mehr funktioniert. Am Ende sind sie materialschädlich, denn viele sind korrosiv.

Bioökonomie verlangt nach neuen Verfahren, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Die Lösung ist nicht «chemische Keule»; es können nicht die massiven Umweltgifte sein, die wieder eingesetzt werden müssen, um Bioökonomie möglich zu machen.

Langer Rede kurzer Sinn

In unserem Kontext bedeutet dies die Notwendigkeit zur Entwicklung und zum Einsatz nicht-chemischer oder zumindest nicht ausschließlich chemischer Verfahren, von Verfahren, die die Haug Chemie weder allein entwickeln kann noch will. Willkommen bei den Innovationspartnerschaften!

Integriertes Lösungsmanagement

Nachhaltiges Lösungsmanagement ist Integration. Hier fließt alles zusammen, was notwendig ist, um dem Kunden einen nahtlosen Komplettservice zu bieten. Das betrifft vor allem auch die verschiedenen Technologien, die zu einer Gesamtlösung integriert werden müssen: Chemie, Biophysik, Sensorik, Datenmanagement… Dabei wandelt sich auch die Rolle des Unternehmens als Lösungsanbieter. Es liefert selbst nur noch einen Teil des Gesamtangebots selbst; es wird zugleich zum Orchestrator und Dirigenten eines ganzen «Entwicklungskonzerts». Dieser Rollenwechsel und die damit verbundenen neuen Beziehungen zu Entwicklungspartnern stellen viele Mittelständler vor sehr große kulturelle Herausforderungen. Haug Chemie immerhin stellt sich ihnen.

Ganz praktisch: KSS (Kühl- und Schmiermittel)

Eines der Projektziele war, möglichst schnell ins konkrete Handeln zu kommen. Noch während der Recherche und der konzeptionellen Arbeit wurde ein Produktbereich für die Umsetzung bestimmt: Kühl- und Schmiermittel.

Photo: Haug Chemie GmbH

Ziel ist es, die Kunden von allem zu entlasten, was in irgendeiner Form mit dem Einsatz von Kühl- und Schmiermitteln zusammenhängt. Das ist nicht trivial, denn der Zustand der Kühl- und Schmiermittel muss regelmäßig hinsichtlich verschiedener Parameter überprüft werden. Die richtige Konzentration erfordert präzises Nachdosieren, und nur ein rechtzeitiger Austausch verhindert Stillstandszeiten. Die können lange und teuer werden, wenn z.B. eine Besiedlung durch Bakterien nicht rechtzeitig erkannt wurde. Wenn wir die Ausdünstungen des Biofilms riechen, ist es zu spät.

Diese ganzen Prozesse sind nicht nur zeit- und damit kostenaufwändig, sondern sie sind sehr fehleranfällig. Erst recht, wenn qualifiziertes Personal knapp ist. Damit ist dies auch ein sehr gutes Beispiel, wie man durch Automatisierung nicht nur sich selbst, sondern als Lieferant auch seine Kunden beim Fachkräftemangel entlasten kann.

Sowohl die Kundenanforderungen, die aus dem Haug-Vertrieb vermittelt wurden, als auch die Wettbewerbsanalyse zeigten: Das Ziel kann nur eine vollständige Automatisierung aller Prozessschritte sein, die für einen erfolgreichen Einsatzes des Produktes beim Kunden notwendig sind. Voraussetzung dafür ist eine valide Datenerfassung und Datenaufbereitung in Echtzeit. Hier sahen wir gemeinsam den in der Anfangsphase zentralen Hebel für eine Innovationspartnerschaft.

Lucky shot: SenseING

SenseING, nach eigenem Selbstverständnis kein «Hyperscaler Start-up», sondern ein Mittelständler der nächsten Generation, wurde 2021 von Sven Kruse, Kyril Deschuk und Ivo Frank gegründet. Deschuk und Kruse hatten 2018 zusammen am IoT Hackathon des wbk Institut für Produktionstechnik am KIT teilgenommen und danach ihre Masterarbeiten über energieautarke IoT Messsysteme geschrieben. Mittlerweile ist das Team auf elf Mitarbeiter angewachsen und liefert IIoT Datenlösungen für mehr als 70 Kunden in zehn verschiedenen Branchen.

SenseING entwickelt die Sensorik, das Datenmanagement und die Dashboards für das KSS-Lösungsmanagement der Haug Chemie. Ein neues, datenbasierendes Geschäftsmodell soll dafür gemeinsam entwickelt werden. Wie dies final aussehen wird, wird die Zukunft zeigen.

Wie die InnoPartner-Erfolgsgeschichte von Haug Chemie und SenseING weitergeht, lesen Sie in Zukunft hier.

Peter Gräser
Peter Gräser
Head of Corporate Innovation / InnoWerft