Generationswechsel ohne Verluste ‒ Junker-Filter

Photo: Junker-Filter GmbH

Ihre herausragende Stellung in ihrem Markt verdanken Mittelständische Unternehmen vor allem zwei Faktoren: Ihrer besonderen Kultur und dem Know-how, d. h. dem Know-how ihrer Mitarbeiter. Auch der Erfolg der Junker-Filter GmbH aus Sinsheim beruht auf einem Know-how-Vorsprung. Dabei geht es nicht nur unmittelbar um die Filter- und Verfahrenstechnik. Dazu gehören mit gleicher Relevanz die genaue Kenntnis der Märkte, der Anwendungsumgebungen und der Kunden sowie der Herstellungsweise und Produktionstechnik.

Geschäftsfelder der Junker-Filter GmbH; Photos und Darstellung: Junker-Filter GmbH

Markt- und Anwendungsknow-how bedeutet bei Junker-Filter Wissen über viele Märkte mit z. T. komplexen Anwendungsszenarien:

  • Lebensmittel;
  • Pharmazeutika;
  • Chemie;
  • Automobile;
  • Energieerzeugung;
  • Bergbau, Steine und Erden;
  • Metallurgie und Stahl;
  • Umwelttechnik.

Auf diesem Know-how basiert die ständige «Innovation in Filtration», die die Identität des 1956 gegründeten und in zweiter Generation inhabergeführten Unternehmens ausmacht. Umso größer ist die Herausforderung des Generationswechsels, die Junker-Filter bevorsteht. Denn nicht nur der Eigner und technische Geschäftsführer Jürgen Junker wird bald aus dem Unternehmen ausscheiden. Auch andere Kollegen in wichtigen Funktionen stehen vor dem Ruhestand.

Vor diesem Hintergrund hatte der kaufmännische Geschäftsführer Julian Nuss bereits die grobe, inhaltliche Struktur eines «Unternehmens-Wikis» entworfen, das alles relevante Wissen über die Märkte, Kunden, Anwendungen der Filter-Systeme sowie deren Konstruktion und Herstellung enthalten sollte. Mit der Anforderung, mit Start-ups als Innovationspartnern dieses Wiki-basierte Knowledge Management aufzusetzen, kam Junker-Filter in das Projekt.

Phase 1 (Herbst 2021 – Fühjahr 2022): Konzeption

Aus zwei Gründen kommt der Konzeptionsphase in diesem Projekt mit Junker-Filter eine besondere Bedeutung zu:

Photo: Junker-Filter GmbH

Erstens ist der Wissenstransfer beim Generationswechsel und auch bei der immer stärker sich diversifizierenden Know-how-Generierung im Arbeitsalltag für das Unternehmen überlebenskritisch. Auch wenn bei Junker Filter nicht nur Wissensarbeiter tätig sind, so ist die Firma doch eine Knowledge-based Company. Das wichtigste Kapital von Junker-Filter sind nicht Maschinen und Anlagen, nicht Produktionsmittel und Immobilien, sondern die Mitarbeiter und ihre Kompetenzen.

Holistischer Ansatz

Zweitens: Für die angestrebte vertikale und funktionale Integration über alle Unternehmensbereich braucht es mehr als ein Unternehmens-Wiki. Das ist ein Teil der Lösung, aber nicht die ganze Lösung, vielleicht sogar nur eine Lösung für den Übergang. In der Konzeption muss das Ganze gedacht, der Zielzustand beim Endausbau in den Blick genommen werden: es braucht einen ganzheitlichen Ansatz für das Konzept. Hinzu kommen zwei strukturelle Einschränkungen bei allen Wiki-Lösungen.

Die Wikipedia-Regel

Ein entscheidender Erfolgsfaktor beim Wissensmanagement ist die aktive Mitarbeit aller, die Wissen teilen können – und sollen. Durch das Wikipedia-Projekt und viele wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Wissensmanagement seit den 1990er Jahren wissen wir, dass dieses Engagement regelmäßig hinter unseren Wunschvorstellungen zurück bleibt, z. T. drastisch. Die «Wikipedia-Regel» dazu lautet schlicht: 1 : 9 : 90. Ein Prozent der Gesamtheit der Wikipedia-Nutzer schreibt alle Artikel und administriert die Plattform. neun Prozent unterstützen gelegentlich, indem sie z. B. Artikel überarbeiten (was zuweilen zu heftigsten Kontroversen führt). 90 Prozent tun sich an den Ergebnissen der Arbeit der anderen gütlich.

Setzen wir das ins Verhältnis zur Zahl der Mitarbeiter bei Junker-Filter – Stand Dez. 2021: 110 –, landen wir bei 1,1 Personen, die alle Junker-Filter-Wiki-Artikel schreiben müssten. Das Ergebnis ist vorhersagbar. Es braucht also zumindest zweierlei: Einen Prozess und einen Dienstleister, damit das aktuell aggregierte Wissen ins Wiki hineinkommt. Und betriebliche Prozesse und Strukturen, damit dieses Wissen laufend ergänzt bzw. aktualisiert wird. Immer. So lange, wie Junker-Filter existiert und dieses Wissensmanagement-Instrument nutzen will.

Das Cartesianische Problem

Das «klassische» Wissensmanagement kommt im praktischen Einsatz schnell an seine Grenzen. Seit der Aufklärung gilt Decartes Dictum «Ich denke, also bin ich!» zumindest unter Akademikern ziemlich unangefochten. Wir behaupten nicht, dass Descartes damit völlig falsch lag. Aber was er sagt, ist weit weniger als die halbe Wahrheit. Menschen denken nicht nur, Menschen handeln. Nicht nur vernunftgesteuert, auch emotional, impulsiv, intuitiv und körperlich. Intuition ist geronnene Erfahrung, Erfahrung, der ich mir nicht mehr bewusst bin. Sonst könnte ich benennen, was mich zu einer «intuitiven Eingebung» gebracht hat. Körperwissen kennt jeder. Wir denken sofort an das Trainieren komplexer Bewegungsabläufe beim Sport. Richtig crawlen, der richtige Aufschlag beim Tennis, die Technik beim Sportklettern. Aber den gleichen Effekt hatten wir, als wir als Kinder gehen lernten: Wir lernten gehen, bevor wir sprechen lernten. Und wir könnten bis heute nicht erklären, wir können nicht einmal denken, wie Menschen Gehen lernen.

Die Grenzen sprachbasierten Wissensmanagements sind dann erreicht, wenn es um dieses implizite Wissen geht, das nicht kodifizierbare, nicht zu versprachlichende Erfahrungs- und Handlungswissen.

Eisberg-Photomontage: Uwe Kils (Eisberg) und User:Wiska Bodo (Himmel), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

So lange ich mich beim Wissensmanagement in der Sphäre der «Wissensarbeit» bewege, erscheint das nicht als Problem. Wissenschaftler lernen seit Jahrtausenden sprachbasiert (über das andere reden sie nicht oder selten). Aber je näher ich im betrieblichen Ablauf dem Handlungsvollzug komme, desto schwieriger wird es. Das Erfahrungswissen des Industriemeisters, des Maschinenbedieners, der anscheinend automatisch und ohne groß nachzudenken eine Lösung anbringt, ist so gar nicht oder nur sehr unzureichend zu erfassen und weiterzugeben. Es ist implizites, nicht kodifziertes Wissen.

Noch stärker wirkt das implizite Wissen in der sozialen Interaktion. Zwischen Kollegen, in Führungsbeziehungen und vor allem im Vertrieb. Ja, auch in diesen Bereichen beruhen die erfolgreichen sozialen Interaktionen zu einem Teil auf «Handwerk». Aber der entscheidende Teil eben nicht, denn er spielt sich im vor- und unbewussten Bereich ab. Wie wollen wir das in einem System abbilden, dass allein sprachbasiert ist?

Wissensmanagement als sozio-kultureller Prozess

Aus den vielen gescheiterten und den wenigen gelungenen Wissensmanagement-Projekten der 1990er und 2000er Jahre haben wir gelernt: Wissensmanagement ist am Ende es Tages kein technisches sondern ein (unternehmens-) kulturelles und vor allem soziales Thema. Technik kann bestenfalls unterstützen. Aber das bei der Überlegung über den Einsatz von technischen Systemen so verbreitete magische Denken («Ich kaufe Software und ich habe damit das Problem gelöst») scheitert hier besonders prominent. Vielleicht ist das ein Grund, warum relativ wenige Start-ups bisher versucht haben, die Herausforderungen, die ein betriebliches Knowledge-Management bereithält, mit technischen Mittel anzugehen. Auf dem Markt ist es vor allem ein Beratungsthema.

Bezogen auf Junker-Filter heißt das: Die Entwicklung eines technischen Systems ist bestenfalls der Anfang. Unternehmensprozesse und Strukturen müssen darauf ausgerichtet werden, dass das Generieren, Austauschen und Aggregieren von Wissen integraler Teil des Wertschöpfungsprozesses ist. Die Voraussetzungen dazu sind gut, nicht nur kulturell. Es gibt z. B. regelmäßige «Laborgespräche» im F&E-Bereich und «Lagerfeuerspräche» im Vertrieb. Auf diesen existierenden Strukturen kann Junker-Filter aufbauen.

Sprachkompetenz

Sprachbasierte Systeme stellen hohe Anforderungen an Sprachkompetenz der Nutzer. Das beginnt bei der Suche nach der richtigen Information: Wie formuliere ich den Suchbefehl so, dass das System findet, was ich suche. Das setzt ein erhebliches Vorwissen voraus und ausreichende Sprachkompetenz bis auf die Ebene der ggf. wissenschaftlichen Begrifflichkeiten. Sprachkompetenz ist ein abnehmendes Kulturgut, nicht nur bei sogenannten bildungsfernen Schichten. Und wer es gewöhnt ist, nahezu nur noch visuell, also bildlich zu kommunizieren, wer in der Schule daran scheitert, eine DIN A4-Seite inhaltlich zu entschlüsseln, und den darin geschilderten Sachverhalt mit eigenen Worten wieder zu geben, für diesen Personenkreis wird das Verständnis komplexer Sachverhalte in sprachlicher Darstellung zu einer nicht geringen Herausforderung.

Das beutete für Junker-Filter: Nicht sofort, aber auf Sicht braucht es nicht nur sprachliche, sondern auch andere Darreichungsformen von Wissen. Nicht nur eine sprachbasiertes Recherche, sondern auch andere Wege führen dazu, dass mir das Wissen, das ich genau jetzt in diesem Moment brauche, zur Verfügung steht.

Ergebnisse

Ziehen wir dies alles in Betracht, sind die Ergebnisse der Anforderungsanalyse folgende:

  • Alle Unternehmensbereiche sind gleichermaßen von einem Generationswechsel in den kommenden 5 – 10 Jahren betroffen.
  • Es besteht unmittelbarer Handlungsbedarf, denn es braucht Zeit für den Wissenstransfer.
  • Alle Unternehmensbereiche müssen sinnvoll in das System integriert werden; Wissensinseln oder Silos einzelner Geschäftsbereiche oder Funktionen sind stark dysfunktional.
  • Es bedarf einer tiefen vertikalen Integration; das System und die Unternehmensprozesse, mit denen Wissen geschaffen und geteilt wird, müssen integrativ sein. Das System steht nicht nur einer «privilegierten Klasse» zur Verfügung.
  • Es bedarf nicht nur sprachlicher, sondern multimodaler Mensch-Maschine-Schnittstellen bzw. Mechanismen für die Generierung wie für die Nutzung des Systemwissens.
  • Für den Start braucht es einen eng begrenzten Scope für ein Leuchtturm-Projekt: Vertrieb und Service

Elaboriert formuliert lautet die Zusammenfassung: Das Zielsystem ist eine vertikal und horizontal das Unternehmen Integrierende Knowledge Engine, die situativ-bedarfsbezogen den unterschiedlichen kognitiven Modi der Nutzer angepasst Know-how ausspielt. Das System nimmt in Standard-Unternehmensprozessen Know-how auf bzw. generiert es automatisch, das dazu nicht in jedem Fall vom Nutzer aktiv versprachlicht werden muss. Eingebettet in eine Kultur des Teilen werden dedizierte Prozesse zum interpersonellen Wissensaustausch aktiv gelebt: «Human powered knowlegde mining» ist Teil der Wertschöpfungsprozesse bei Junker-Filter. Das ganze ist kein technisches, sondern ein lebendiges «sozi-technisches System».

Ausblick auf intendierte Nebeneffekte: Optionen für weitere Wertschöpfung

Zusätzlich zum internen Nutzen bietet das Zielsystem zwei parallel nutzbare Quellen der Wertschöpfung für die Junker-Filter GmbH.

Junker-Filter ist bestrebt, alle Geschäftsprozesse digital zu transfomieren. Zum Ergebnis gehören auch Customer Self-Service-Prozesse, die z. B. mit dem «Blue Board» oder einem Filter-Konfigurator möglich gemacht werden. Wie andere Unternehmen auch, kann Junker-Filter Teile des im Wissensmanagement-System vorgehaltenen Know-hows seinen Kunden zur Verfügung stellen, um durch die Auslagerung von Prozessen Kosten zu sparen und sich damit gleichzeitig an die Interaktionsgewohnheiten jüngerer Generation anpassen.

Schließlich steht nicht nur Junker-Filter vor der Herausforderung des Generationswechsels in einem Unternehmen mit stark wissensbasierter Wertschöpfung. Und Junker-Filter wäre nicht das erste Unternehmen, dass aus einem internen Projekt zusammen mit seinen Entwicklungspartnern ein Produkt für einen attraktiven Markt macht.

Phase 2 (Frühjahr 2022 – Sommer 2022): Scouting

Keines der gescouteten Start-ups, die das Thema Wissensmanagement zum Gegenstand ihrer Geschäftstätigkeit gemacht haben, erfüllte die Anforderungen an eine vertikal-integrierte, multi-modale «Knowledge Engine für Junker-Filter». Es war erwartbar und bestätigte sich schnell, dass es keine Out-of-the-Box-Lösung geben würde. Als Ausweg schlugen wir eine Orchestrierung des Projektes mit mehreren Elementen bzw. Partnern vor. Eine handelsübliche Wiki-Software wie Blue Spice Media Wiki für das Unternehmens-Wiki, einen Partner für das redaktionelle Konzept, die Aufbereitung der sehr verstreuten und diversen Inhalte und schließlich auch ein Start-up: Peerox.

Perrox GmbH wurde 2019 von Markus Windisch und Andre Schult gegründet als Spin-off des Fraunhofer-Instituts für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV. Ihr System KI-basiertes System Maddox wird sehr erfolgreich bei Kunden in der Industrie eingesetzt. Maddox ist ein «digitaler Kollege» mit künstlicher Intelligenz, der vor allem Maschinenführer und Instandhalter selbstständig bei der Lösung von Probleme im Produktionsablauf unterstützt.

Aber warum ein Assistenz- und Wissensmanagement für die Produktion auswählen, wenn es in der ersten Ausbaustufe um Vertrieb und Service geht? Das besondere: Maddox ist ein digitaler Helfer mit psychologischem Fachwissen. Denn Peerox kann nicht nur Produktion, KI und Maschinen. Was Peerox außergewöhnlich macht: Peerox kann dabei auch Menschen. Peerox adressiert erfolgreich eines der Grundfragen aller KM-Systeme, die des Engagements und der damit verbundenen Mehraufwände für die Nutzer: Warum soll ich mein Wissen mühsam sprachlich formulieren und in ein System einspeisen, wenn ich ohnehin schon maximal ausgelastet bin? Wenn ich mir nicht sicher bin, ob meine Beiträge genutzt werden? Und schließlich ist das ja mein Wissen! D. h. Maddox kann Sprache, muss sie aber nicht. Damit bietet Peerox mit Maddox das einzige System, bei dem die Grundvoraussetzungen für die angestrebte multi-modale, vertikale und funktionale Integration gegeben ist.

Peerox erklärte ich bereit, in Generalunternehmerschaft das Entwicklungsprojekt zu übernehmen und auf Basis der KI und der Logik verschiedener Interaktionsmuster auch die Bereiche außerhalb der Produktion, zunächst ja Vertrieb und Service für den Leuchtturm bei Junker-Filter zu adressieren. Als weitere Projektpartner schlug Peerox Mitglieder von Forschungsgruppen der TU Dresden und des Fraunhofer IVV vor, mit denen die Peerox-Gründer schon erfolgreich zusammengearbeitet hatten. Mit der Integration des Wiki, Schnittstellen zu anderen Systemen bei Junker-Filter wie eines CRM und des Einkaufsmanagement war so sowohl eine horizontale und vertikale Integration möglich.

Diese Konfiguration hat einen weiteren, intendierten Nebeneffekt: Junker-Filter kann mit einer solchen Lösung ein weiteres, massiven Problem adressieren: den katastrophalen Mangel an qualifizierten und erfahrenen Fachkräften. Als Assistenz-System «speichert» die «Maschine» das Erfahrungs- und Handlungswissen der Kollegen, ohne das diese sich die Mühe der sprachlichen Formulierung machen müssen. Mit einer solchen Werkerführung durch den erfahrenen und kompetenten werden unerfahrene und wenig oder nicht deutsch-sprachig kompetente Menschen in der Lage versetzt, auch in komplexen Produktionsszenarien angemessene Arbeitsergebnisse zu erbringen.

Und am Ende des Tages kann der digitale Kollege auch den Nachwuchs in anderen Unternehmensfunktionen unterstützen und einarbeiten helfen. Der Einsatz digitaler Technologien in der Aus- und Fortbildung sowie in der Einarbeitung steigert die Attraktivität von Junker-Filter als Arbeitgeber.

Nach dem Scouting ruhte das Projekt bei Junker-Filter aus betriebsinternen Gründen bis in den Herbst. Einen Termin im November muss Junker-Filter wieder aus Kapazitätsgründen absagen. Am 30. November landet schließlich der sprichwörtliche schwarze Schwan: Open AI veröffentlicht die erste öffentlich zugängliche Version von ChatGPT und löst damit einen Boom für KI-Systeme aus, die auf sogenannten großen Sprachmodellen basieren. In der Folge lässt Junker-Filter das bisherige Konzept fallen und setzt auf die Sprachmodell-KI. Ein Heidelberger Start-up ist als möglicher Kooperationspartner im Gespräch.

Peter Gräser
Peter Gräser
Head of Corporate Innovation / InnoWerft